Fragen an Klaus Meßlinger
Warum praktizierst du Aikido?
"Ich übe Aikido, weil ich im Austausch mit anderen verstehen möchte, wer ich bin, was mich antreibt und welche Dynamik ich in und aus der Gemeinschaft entwickle. Aikido bietet mir bei dieser Suche umfassende Erfahrungen auf körperlicher und geistiger Ebene, die sich auch auf mein Leben außerhalb der Matte auswirken.
Dazu kommt die Freude an den Herausforderungen dieser Kampfkunst. Die internationale Gemeinschaft, in der ich regelmäßig übe, ist dabei wie eine große Familie, die mich auf meiner Suche begleitet und die mich zugleich fordert und unterstützt. Jeder Besuch in einem der befreundeten Dojos auf der ganzen Welt ist wie ein Nach-Hause-Kommen für mich.
In unserer individualisierten Gesellschaft kommen wir anderen Menschen kaum noch nahe, Abstand und Abschottung sind die Regel. Im Aikido kommen wir wieder in Kontakt, weshalb das Training uns helfen kann, die Beziehungen zu unseren Mitmenschen ins Gleichgewicht zu bringen.
Mit den Worten meines Freundes Svein Hatlen aus Stockholm lässt sich das Warum auf eine einfache Formel bringen: Aikido makes people happy."
Wie übst du?
"Ich habe mich bewusst für eine Ausprägung des Aikido entschlossen, bei der es in erster Linie um die Dynamik des Angreifers/der Angreiferin (Uke) geht, darum, was sich aus daraus entwickeln lässt. Statt einfach nur eine Technik an Uke auszuführen entwickelt sich so die Technik aus der persönlichen Verfassung, Absicht und Intensität meines Gegenübers. Es ist wie ein Gespräch, bei dem Uke eine Frage stellt und ich nach einer passenden Antwort suche. Dies ist in meinen Augen die Essenz des Aikido.
Es ist eine spannende Herausforderung, den Moment zu finden, in dem Uke sich im Vorteil wähnt, meine Reaktion kaum wahrnimmt und damit auch keinen Anhaltspunkt zum kontern hat. So werde ich Teil der Bewegung und gestalte sie. Dabei ist das Wohlergehen von Uke ist ein wichtiger Punkt, denn anders kann Aikido keine Konfliktlösung anbieten.
Die Begriffe, die ich im Training nutze, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, denn unsere Sprache lenkt unsere Aufmerksamkeit und beeinflusst unsere Verhaltens- und Bewegungsmuster. So verwende ich beispielsweise
- statt "das Gleichgewicht Ukes brechen" lieber "Uke das Gleichgewicht suchen lassen", denn Uke greift mich an, nicht umgekehrt,
- statt "Uke kontrollieren" den Ausdruck "eine wachsame Verbindung zu Uke halten", denn Kontrolle ist eine verhängnisvolle Illusion, und
- statt "Uke werfen" nur schlicht "in die Bewegung eintreten", denn wie Uke reagiert, das hängt von der Situation ab.
(Diese Betrachtungsweise habe ich von meinen Lehrern Jan Nevelius und Ulli Kubetzek übernommen.)
Häufig werde ich gefragt, ob Aikido effektiv ist. Die Antwort hängt von den Zielen ab, die wir uns setzen, und von den Erwartungen, die wir an unsere Kampfkunst haben. Wenn wir glauben, dass wir damit auf jeden Angriff vorbereitet sind, dann laufen wir Gefahr, "mit einem Messer zu einer Schießerei zu gehen", wie man im Englischen sagt.
Aber wenn wir ernsthaft üben und unsere Übungen stets hinterfragen, dann können wir lernen, uns besser auf Konfliktsituationen einzustellen. In diesem Sinne werden wir effektiver. Deswegen ist es mir wichtig, auch als Lehrer immer ein Lernender zu sein mit dem Ziel, meine Möglichkeiten ständig zu erweitern."
Was sind die Inhalte?
"Das Was setzt sich aus mehreren Elementen zusammen:
- Aiki-Taiso: Bewegungs- und Wahrnehmungsübungen, um mein Körperbewusstsein und meine Aufmerksamkeit zu stärken
- Ukemi: die Bewegung annehmen, den eigenen Widerstand überwinden
- Kihon-Waza: Grundtechniken, um meiner Recherche eine Struktur zu geben
- Kimusubi: Sensibilisierung für und Verbindung mit der Dynamik der Partner*innen
- Jiu-Waza: Freie Arbeit, um meine Aufmerksamkeit für den spontanen Fluss der Bewegung zu schulen und um zu lernen, meiner Intuition zu vertrauen
- Buki-Waza: Arbeit mit Waffen, um Haltung, Distanz und Timing zu üben — für den waffenlosen Kampf
Kihon-Waza ist ein Punkt, an dem häufig Kritik geübt wird. Die Angriffe und Techniken seien abgesprochen, Uke verhalte sich unrealistisch oder ferngesteuert, das Ganze sei nichts anderes als Tanz. Tatsächlich ist es ein großes Problem, wenn Uke im Angriff bereits die Technik vorausnimmt, z.B. schon zu fallen beginnt, bevor dies überhaupt notwendig ist. Oder wenn ein Schlag nicht mit Absicht und Fokus ausgeführt wird, aus Angst den Partner bzw. die Partnerin zu verletzen. Oder wenn Uke aufhört ernsthaft anzugreifen und nur noch passiv am Kontakt hängt.
Wenn wir ernsthaft üben, dann gehen wir davon aus, dass Uke nicht blind angreift, sondern sich der Möglichkeiten, Öffnungen und sicheren Positionen bewusst ist und den Angriff kontinuierlich fortsetzt. Vielleicht findet Uke eine Öffnung und kann die Technik umdrehen – oder eben nicht. Dann versteht Uke, dass der Angriff ins Leere gelaufen ist, akzeptiert die Konsequenz und geht zu Boden. Das ist der Rahmen, in dem wir üben.
Kihon-Waza ist ein Konstrukt, das uns helfen soll, bestimmte Situationen isoliert zu üben: Es ist eine Geschichte, die wir erzählen, bei der wir den handelnden Figuren bestimmte Absichten und Verhaltensweisen unterstellen. Diese Geschichten sollten möglichst vielfältig sein und immer wieder auf ihren Sinn überprüft werden, insbesondere was den Angriff angeht. Sie sind sehr hilfreich, um unser Reaktionsvermögen zu schulen, damit wir in der Anwendung – z.B. im Jiu-Waza – auf sich ständig ändernde Situationen reagieren können.
Zu den missverstandenen Übungen gehört auch Buki-Waza, die Arbeit mit Waffen. Ziel ist es nicht, die Selbstverteidigung gegen bewaffnete Angriffe zu üben, dafür sind unsere Übungsformen nicht gedacht. Insbesondere die Arbeit mit dem Messer ist nicht für die Abwehr realer Angriffe geeignet! Ziel ist vielmehr das Einüben guter Haltung, das Entwickeln von Sensibilität für den richtigen Abstand und den richtigen Augenblick, und letztendlich das Stärken des eigenen Selbstbewusstseins und des Respekts vor den Partnerinnen und Partnern. Die Arbeit mit den Waffen hilft also dabei, unser Aikido zu verbessern."
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